Freitag, 14. Oktober 2016

Die Diagnose Stille Bedrohung

                                     Die Diagnose
Eine Bibliothekarin kommt mit Nackenschmerzen in die Notaufnahme.
Ein Chirurg entdeckt, dass sie in Lebensgefahr schwebt.
Auf die 54- jährige Patientin traf ich im Mai dieses Jahres in einer Hamburger Notaufnahme. 
Sie klagte über heftige Nackenschmerszen.
Am Mittag sei sie mit der linken Schulter am Rahmen der küchentür hängen geblieben und 
habe sich dabei den Hals verdreht, erzählte sie. Mittlerweile war es acht Uhr abends, und das 
Genickt tat ihr immer noch weh.

Die Bibliothekarin berichtete , dass sie schon seit drei Wochen unter Nackenschmerszen litt. 
Ihr Hausarzt hatte sie untersucht und nichts Auffälliges gefunden.
Er verschrieb ihr ein Schmerzmittel, da er vermutete, sie habe verlegen oder eine Zerrung 
erlitten.
Seit dem Zwischenfall heute Mittag hätten die Schmerzen aber zugenommen, und der linke, 
kleine Finger kribbele, sagte die Frau. Ich überlegte, ob sie statt einer muskulären 
Verspannung ein neurologisches Problem haben könnte.

Zunächst untersuchte ich die Wirbelsäule. Ein Bandscheibenvorfall auf Höhe der beiden 
unteren Halswirbel kann Missempfindungen des kleinen Fingers auslösen. Doch keine der 
von mir durchgeführten Bewegungen verstärkte die Beschwerden. Also widmete ich mich 
der linken Schulter: Vielleicht war ein Schleimbeutel entzündet oder ein Gelenk eingeengt? 
Aber auch diese Untersuchung war unauffällig.

                          Mir fiel ein ähnlicher Fall ein, der Jahre zurücklag.
Damals war eine etwa 60-Jährige mit chronischen Nackenschmerzen zu mir in die 
Notaufnahme gekommen. Am Morgen hatten ihre Beschwerden zugenommen, sodass sie 
zum Chiropraktiker gegangen war. Der hatte sie eingerenkt, doch die Schmerzen waren 
danach noch stärker geworden. Offenbar hatte das Zerren des Therapeuten am oberen 
Teil der Wirbelsäule Halsgefäße geschädigt. Ich hatte damals entschieden, die Frau an die 
Neurochirurgen zu übergeben. Noch vor der Übergabe war sie zusammengebrochen. 
Wir hatten sofort mit Der Wiederbelebung begonnen, doch die Frau war währenddessen 
verstorben. 
Die Obduktion hatte ergeben: Ein Halsgefäß war verletzt, zudem waren Herzkranzarterien 
verstopft. Beide Befunde können sich in starken Nackenschmerzen äußern. 
Der Verschluss der Herzgefäße hatte zu einem Infarkt geführt und den plötzlichen Tod 
verursacht.

Mit diesem Fall vor Augen ließ ich sofort ein EKG anfertigen. Der Befund zeigte:
Auch sie hatte einen ausgedehnten Herzinfarkt. Eine Blutprobe ergab, dass die 
Herzenzyme astronomisch hoch waren. Umgehend führten die Kardiologen eine 
Herzkatheteruntersuchung durch: Sie schoben einen Kunststoffschlauch über eine 
Leistenarterie bis zu den Herzkranzgefäßen und gaben Kontrastmittel. So werden enge 
Stellen und Verschlüsse im Gefäß auf dem Röntgenbildschirm sichtbar. Tatsächlich war
eines der drei Hauptgefäße, die den Herzmuskel mit Blut Versorgen, fast vollständig 
verschlossen.

Jetzt war klar: Die Nackenschmerzen der Frau rührten daher, dass das Herz nur noch 
unzureichend durch blutet war. Normalerweise spüren Betroffene erste Beschwerden, 
wenn ein Herzkranzgefäß zu etwa drei Viertel verschlossen ist. Bei dieser Patientin war 
mittags gar kein Blut mehr durch das verengte Gefäß getröpfelt - zu diesem Zeitpunkt 
hatte sie den Infarkt erlitten.
Dabei werden die Herzmuskelzellen nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und 
gehen zugrunde. Die Nackenschmerzen hatten sich daraufhin verstärkt. Ihr Stoß an der 
Küchentür war genau wie die Behandlung der anderen Patientin Beim Chiropraktiker 
zufällig zeitgleich gewesen.

Die Bibliothekarin hatte einen ( Stillen ) oder (Stummen) Infarkt gehabt.
Die Betroffenen Frauen allgemein und Menschen mit Diabetes sind besonders
Gefährdet Spüren kaum Schmerzen oder haben sie an anderer Stelle als in der
Brust beispielsweise im Nacken, Kiefer oder Bauch. Der sonst so typische starke 
Brustschmerz mit Atemnot, Todesangst und Armschmerzen bleibt aus. Und noch etwas 
hatte mir den Blick für die richtige Diagnose verstellt die Frau hatte keinerlei Risikofaktoren 
für einen Herzinfarkt Sie war Schlank, rauchte nicht und hatte normale Blutzucker- und 
Blutfett Werte. Während der Herzkatheteruntersuchung setzten die Kardiologen ein 
Gitterröhrchen in das verengte Gefäß ein, um es offen zu halten. Nur wenige Tage Später 
konnte die Patientin die Klinik verlassen. Und ich werde die Verdachtsdiagnose Herzinfarkt 
immer im Hinterkopf haben.

An dieser Stelle schildern regelmäßig Ärzte ihre außergewöhnlichsten Fälle.
Diese Woche:
Dr. Ekkehard Pietsch, 53, frei Praktizierender Chirurg und Unfallchirurg in
Hamburg.

Stern: Wissen/Technik
Seite 126
Stern 15.09.2016

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